"Da bietet eine säkular verfasste Gesellschaft eine Riesenchance, weil sie Freiheit gibt und darüber wachen kann, dass sich Sprachgewalt, die ja auch faszinierend ist oder jedenfalls an tatsächliche Schwingungen unserer Seele und Erfahrungswelt rührt, nicht in soziales Handeln überträgt."
Gleichzeitig betont er, dass das Verschwinden der Religion gewaltige Verluste und Gefahren mit sich bringt, da unsere Kulturen tief von religiösen Motiven und Haltungen geprägt sind. Wenn der Zugang zur Religion verloren geht, geht auch der Zugang zu kulturellem Wissen verloren. Kermani beobachtet, dass jene Gesellschaften, die sich ihrer selbst nicht bewusst sind, am ehesten zum Fundamentalismus, Nationalismus und zur Fremdenfeindlichkeit neigen.
Ein weiteres Thema, das in dem Interview zur Sprache kommt, ist das Christentum. Kermani beschreibt es als die Religion des Opfers, die einer marktwirtschaftlichen Logik entgegensteht.
Er sagt: "Es gibt nichts, was einer marktwirtschaftlichen Logik dermaßen entgegensteht wie der Gedanke des Opfers."
Trotzdem ist das Christentum nach wie vor eine prägende Kraft in der westlichen Welt. Kermani glaubt, dass dies daran liegt, dass es eine große Zahl von Gläubigen gibt, die ihre Überzeugungen weitergeben.
Kermani sieht die Institutionen der Kirche in der Krise, aber betont, dass die Kirche über Personen und Generationen hinaus besteht und somit auch über den eigenen Horizont hinausgeht.
Eine Prognose für das Christentum sieht er darin, dass es weiterbestehen wird, solange es genügend Gläubige gibt, die es weitergeben. Er betont jedoch auch, dass die religiöse Praxis sich ändern wird und dass es wichtig ist, die Mystik und die gemeinsamen Rituale und Gemeinschaften in der Religion zu erhalten, um die Spiritualität in der Religion zu entfalten.
Das Gespräch mit Kermani endet mit einem Thema, das ihm sehr am Herzen liegt: dem Vormarsch der Fundamentalisten in verschiedenen Religionen. Kermani sieht darin eine große Gefahr und betont, dass es wichtig sei, die Religionen nicht den Extremisten zu überlassen.
Er sagt: "Es ist ja nicht zu übersehen, dass die Fundamentalisten überall auf dem Vormarsch sind."
Insgesamt betont Kermani, dass religiöse Traditionen einen Deutehorizont für Erfahrungen bereitstellen, die sonst gar nicht beschreibbar wären, und dass es wichtig sei, einer nachfolgenden Generation die Möglichkeit zu geben, zu glauben.
Kermani: "Vielleicht sprechen sich diese Gebete einmal von selbst. Es ist gut, wenn man sie kann, wenn man sie gelernt hat, da man sonst ein Analphabet bleibt. Die Freiheit zum Unglauben kommt ja erst, wenn man weiß, was man ablehnen kann. Eine Aufgabe der Erziehung wäre, einer nachfolgenden Generation die Möglichkeit zu vermitteln, dass man glauben kann. Ob sie dann den Glauben annimmt oder nicht, hängt von ihrer Lebenserfahrung ab."