Bestseller-Autor spricht über Gott, den Sinn des Lebens und die Bedeutung von Opfer und Fundamentalismus

Navid Kermani im fiftyfifty-Interview: "Es gibt eine Sehnsucht nach Religion im Gewand der Kultur"

Von Alexandra Scholz-Marcovich |

Neue fiftyfifty mit Navid Kermani im Interview / Foto © Katharina Mayer

Neue fiftyfifty mit Navid Kermani im Interview / Foto © Katharina Mayer

Die neueste Ausgabe der Straßenzeitung fiftyfifty enthält ein exklusives Interview mit dem Bestseller-Autor Navid Kermani. In dem Interview spricht der 1967 in Siegen geborene Schriftsteller iranischer Abstammung über Gott und den Sinn des Lebens. Obwohl Kermani selbst dem Glauben skeptisch gegenübersteht, ist sein Werk ein Bestseller geworden. Er betont, dass es trotz des Glaubensabbruchs und der Skepsis gegenüber Religion immer noch eine Sehnsucht nach Religion im Gewand der Kultur gibt.

„Der Islam oder das Christentum oder das Judentum oder irgendeine andere Religion ist schließlich nicht in Büros entstanden, in Bibliotheken oder in Klassenzimmern. Die Religionen sind entstanden, wo Menschen sich in der Natur umgeschaut haben oder sich um ihre Liebsten sorgten, als sie selbst krank waren, hungerten oder sich verloren fühlten, bei der Geburt ihres Kindes oder beim Tod der Eltern, also mit den wichtigsten Ereignissen, die es im Leben eines Menschen gibt. Und warum? Weil sie merkten, dass sie von Unendlichkeit umgeben sind. Ja, Unendlichkeit.“ Navid Kermani: Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen, S. 11

In der Ausgabe von fiftyfifty ist ein exklusives Interview mit Navid Kermani veröffentlicht. Es wurde von Michael Schrom und Anne Strotmann geführt.

Fragen über Gott

Über den Schatz der religiösen Traditionen

Der Schriftsteller, der für sein Werk zahlreiche renommierte Preise erhalten hat, spricht darin über Gott und den Sinn des Lebens. In dem Interview betont Kermani, dass es eine Sehnsucht nach Religion im Gewand der Kultur gibt, auch wenn viele Menschen skeptisch gegenüber organisierten Religionen sind.

Er sagt: "Zumindest gibt es eine Sehnsucht nach Religion im Gewand der Kultur."

Zugleich betont er jedoch, dass es nicht möglich sei, zurück hinter die Aufklärung zu gehen.

In dem Buch spricht Kermani auch persönlich seine Tochter an, die am Beginn ihrer Pubertät steht, und betont die Bedeutung von Gottvertrauen. Er kann sich ein Leben ohne dieses Vertrauen nicht vorstellen, auch wenn er nicht sagen kann, welches Ritual, Gebet oder Kunstwerk er weitergeben würde, da es eher um eine Haltung geht.

Kermani wird in dem Interview gefragt, welche Kriterien er für die Unterscheidung zwischen religiösen Schriften und Traditionen, die Kultur geschaffen haben, und solchen, die Leid angerichtet haben, sieht. Er betont, dass man nicht das Gute und das Böse fein säuberlich trennen kann und dass alles zutiefst ambivalent ist. Religiöse Überzeugungen können dazu führen, dass man bereit ist, dafür zu kämpfen.

"Da bietet eine säkular verfasste Gesellschaft eine Riesenchance, weil sie Freiheit gibt und darüber wachen kann, dass sich Sprachgewalt, die ja auch faszinierend ist oder jedenfalls an tatsächliche Schwingungen unserer Seele und Erfahrungswelt rührt, nicht in soziales Handeln überträgt."

Gleichzeitig betont er, dass das Verschwinden der Religion gewaltige Verluste und Gefahren mit sich bringt, da unsere Kulturen tief von religiösen Motiven und Haltungen geprägt sind. Wenn der Zugang zur Religion verloren geht, geht auch der Zugang zu kulturellem Wissen verloren. Kermani beobachtet, dass jene Gesellschaften, die sich ihrer selbst nicht bewusst sind, am ehesten zum Fundamentalismus, Nationalismus und zur Fremdenfeindlichkeit neigen.

Ein weiteres Thema, das in dem Interview zur Sprache kommt, ist das Christentum. Kermani beschreibt es als die Religion des Opfers, die einer marktwirtschaftlichen Logik entgegensteht.

Er sagt: "Es gibt nichts, was einer marktwirtschaftlichen Logik dermaßen entgegensteht wie der Gedanke des Opfers."

Trotzdem ist das Christentum nach wie vor eine prägende Kraft in der westlichen Welt. Kermani glaubt, dass dies daran liegt, dass es eine große Zahl von Gläubigen gibt, die ihre Überzeugungen weitergeben.

Kermani sieht die Institutionen der Kirche in der Krise, aber betont, dass die Kirche über Personen und Generationen hinaus besteht und somit auch über den eigenen Horizont hinausgeht.

Eine Prognose für das Christentum sieht er darin, dass es weiterbestehen wird, solange es genügend Gläubige gibt, die es weitergeben. Er betont jedoch auch, dass die religiöse Praxis sich ändern wird und dass es wichtig ist, die Mystik und die gemeinsamen Rituale und Gemeinschaften in der Religion zu erhalten, um die Spiritualität in der Religion zu entfalten.

Das Gespräch mit Kermani endet mit einem Thema, das ihm sehr am Herzen liegt: dem Vormarsch der Fundamentalisten in verschiedenen Religionen. Kermani sieht darin eine große Gefahr und betont, dass es wichtig sei, die Religionen nicht den Extremisten zu überlassen.

Er sagt: "Es ist ja nicht zu übersehen, dass die Fundamentalisten überall auf dem Vormarsch sind."

Insgesamt betont Kermani, dass religiöse Traditionen einen Deutehorizont für Erfahrungen bereitstellen, die sonst gar nicht beschreibbar wären, und dass es wichtig sei, einer nachfolgenden Generation die Möglichkeit zu geben, zu glauben.

Kermani: "Vielleicht sprechen sich diese Gebete einmal von selbst. Es ist gut, wenn man sie kann, wenn man sie gelernt hat, da man sonst ein Analphabet bleibt. Die Freiheit zum Unglauben kommt ja erst, wenn man weiß, was man ablehnen kann. Eine Aufgabe der Erziehung wäre, einer nachfolgenden Generation die Möglichkeit zu vermitteln, dass man glauben kann. Ob sie dann den Glauben annimmt oder nicht, hängt von ihrer Lebenserfahrung ab."

Das vollständige Interview mit Navid Kermani ist in der April-Ausgabe von fiftyfifty veröffentlicht.

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Navid Kermani ist bekannt für seine literarischen Werke und Essays und hat für sein Werk zahlreiche renommierte Preise gewonnen, darunter den Kleist-Preis, den Joseph-Breitbach-Preis, den Hölderlin-Preis, den Hannah-Arendt-Preis, die Buber-Rosenzweig-Medaille und den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Zu seinen bekanntesten Büchern gehören "Dein Name" (Roman, 2011), "Große Liebe" (Roman, 2014), "Sozusagen Paris" (Roman, 2016) sowie "Ayda, Bär und Hase" (2017), sein erstes Buch für Kinder. Sein aktuelles Werk "Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen" ist ein Bestseller.