Die Abstimmung zu diesem Gerichts-Drama beschreibt nicht nur etwas über unsere Gesellschaft, es sagt auch etwas über den Zustand unseres Fernsehens und unserer Fernseh-Gewohnheiten.
Das Stück: Ein Pilot der Luftwaffe hat ein Passagierflugzeug mit 164 Passagieren abgeschossen, weil es von einem Terroristen entführt wurde, der es in ein vollbesetztes Stadion mit 70.000 Menschen lenken lassen will. Der Pilot hatte keinen Befehl dazu von seinen Vorgesetzten, er handelte aus eigener Verantwortung und wird deshalb angeklagt. So weit das Drama von Ferdinand von Schirach. Die Handlung des Stücks basiert auf realen politischen Auseinandersetzungen:
Der Jurist und ehemalige Bundesinnenminister (1978-1982) Gerhart Baum hatte mit Jurist Burkhard Hirsch (beide FDP) erfolgreich mehrere Verfassungsbeschwerden gewonnen, so auch 2006 gegen das sogenannte „Luftsicherheitsgesetz“. Vereinfacht gesagt: Ein Kampfjet der Luftwaffe sollte die Möglichkeit erhalten, ein Passagierflugzeug abzuschießen, wenn es von Terroristen entführt und für die Tötung von Menschen am Boden benutzt werden sollte. Das Bundesverfassungsgericht hatte Baum und Hirsch Recht gegeben und dieses Gesetz dann am15. Februar 2006 für verfassungswidrig erklärt. Die Leitsätze: 3. „Die Ermächtigung der Streitkräfte, gemäß § 14 Abs. 3 des Luftsicherheitsgesetzes durch unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt ein Luftfahrzeug abzuschießen, das gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll, ist mit dem Recht auf Leben nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG nicht vereinbar, soweit davon tatunbeteiligte Menschen an Bord des Luftfahrzeugs betroffen werden.“
Aus dem Urteil: 1. „§14 Absatz 3 des Luftsicherheitsgesetzes vom 11. Januar 2005 (Bundesgesetzblatt I Seite 78) ist mit Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 in Verbindung mit Artikel 87 a Absatz 2 und Artikel 35 Absatz 2 und 3 sowie in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes unvereinbar und nichtig.
LINK www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2006/02/rs20060215_1bvr035705.html
Aus der Begründung : „Der Staat dürfe eine Mehrheit seiner Bürger nicht dadurch schützen, dass er eine Minderheit - hier die Besatzung und die Passagiere eines Flugzeugs - vorsätzlich töte. Eine Abwägung Leben gegen Leben nach dem Maßstab, wie viele Menschen möglicherweise auf der einen und wie viele auf der anderen Seite betroffen seien, sei unzulässig. Der Staat dürfe Menschen nicht deswegen töten, weil es weniger seien, als er durch ihre Tötung zu retten hoffe.
Eine Relativierung des Lebensrechts der Passagiere lasse sich auch nicht damit begründen, dass diese als Teil der Waffe Flugzeug angesehen würden. Wer so argumentiere, mache sie zum bloßen Objekt staatlichen Handelns und beraube sie ihrer menschlichen Qualität und Würde.“
Heißt : Ein Passagierflugzeug mit Terroristen an Bord darf nach unserer Verfassung, dem Grundgesetz (GG), nicht von der Luftwaffe abgeschossen werden. Punkt. „Jedes menschliche Leben ist als solches gleich wertvoll“, heißt es vom Verfassungsgericht, und muss vom Staat geschützt werden.
Zudem, so führt das oberste deutsche Gericht aus, verstoße ein Einsatz der Luftwaffe (Bundeswehr) im Innern gegen das Grundgesetz, dass ja einen Einsatz der Bundeswehr im Innern nicht gestattet.
These 1 zur Diskussion um den Film und das Theaterstück – und damit das Zuschauerurteil – ist also: Dieser Hintergrund war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der überwiegenden Mehrheit der Zuschauer nicht bekannt.
These 2: Die Mehrheit der Zuschauer hat aus rein emotionalen Gründen für einen Freispruch des Piloten gestimmt, nicht auf Grund rationaler Bewertung der Fakten.
These 3: Wer gegen das Gesetz handelt, ist nach unseren Gesetzen zu verurteilen. Die Mehrheit der Zuschauer hat sich also gegen unsere Gesetze und gegen das Grundgesetz ausgesprochen, wahrscheinlich nicht mit vollem Bewusstsein dieses Widerspruchs.
Worum geht es denn eigentlich?
Es geht um die Frage, ob die Moral über dem Gesetz stehen kann. Ob wir die Grundlagen unserer Verfassung beiseite schieben können, weil wir meinen, es moralisch vertreten zu können. Antwort: Nein.
In diesem Fall hieße das übrigens auch: Können (durchaus bestens ausgebildete) Bundeswehrsoldaten, können Verteidigungsminister und Innenminister über Leben und Tod entscheiden?
Im Stück und im Film sagt die Staatsanwältin: Nur auf Grundlage unserer Verfassung „können wir als freie Gesellschaft weiter leben.“ Und Jurist Baum formuliert in der anschließenden Diskussion: Eine Entscheidung kann getroffen werden – aber nur auf Grundlage unserer Gesetze und unserer Verfassung. Und Baum angesichts der Angst vor dem Terror, den viele haben: Wir dürfen die Grundlagen unserer Gesellschaft nicht aus Terror-Angst aufgeben.
Die Verfassung, sagte die evangelische Theologin Petra Bahr ganz richtig, ist auch dazu da, den Bürger gegen den Staat zu schützen. In diesem Fall aber wäre es so: Der Staat opfert mich, um andere zu schützen ?
In der dem Film folgenden Diskussion bei „hart aber fair“ argumentierten Gerhart Baum, der erfolgreiche Kläger gegen das Gesetz, unter anderem mit dem 2005 bis 2009 amtierenden Verteidigungsminister Franz-Josef Jung, CDU. Der ist heute noch dafür, ein gekidnapptes Flugzeug mit unbeteiligten Passagieren abzuschießen, wie er in der Sendung betonte. Woraufhin ihm Baum völlig korrekt vorwarf, er ignoriere die Verfassung. Für einen Politiker ein ziemlich vernichtender Tatbestand.
Eine Frage blieb in der Diskussion nicht ganz geklärt: Warum wurde von den Verantwortlichen (Politikern und Soldaten) nicht die Evakuierung des vollen Stadions befohlen, als das durchaus noch möglich war? Es schien so, als ob – im Film – ein Abschuss durchaus als Exempel klammheimlich willkommen gewesen wäre.
Fakt ist: Auf der Web-Seite des Bundes-Justizministeriums steht das Luftsicherheitsgesetz mit dem verfassungswidrig erklärten Absatz 3 des § 14 noch immer. Nur mit der „Fußnote“ versehen, dass dieser Absatz 3 „Nach Maßgabe der Entscheidungsformel mit GG unvereinbar und nichtig gem. BVerfGE v. 15.2.2006 I 466 - 1 BvR 357/05“ - www.gesetze-im-internet.de/luftsig/__14.html
Die Alternative
Meine Frau, die unter anderem Philosophieunterricht erteilt und diese Frage von Moral und Gesetz auch in vielen Unterrichtsstunden behandelt, hat zudem eine anderen Vorschlag für eine solche Abstimmung im Fernsehen: Wie wäre es, wenn beide ja durchaus gefilmten und vorhandenen Urteile – schuldig und nicht schuldig – im Fernsehen vorgetragen werden? Und dann können die Zuschauer abstimmen? Es wäre vielleicht doch anders ausgegangen?
(Text Jo Achim Geschke)