K21 vom 18. Dezember 2021 – 24. April 2022

Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen zeigt Gerhard Richters Birkenau-Zyklus

Grauer Spiegel (4-teilig), 2019 (WV 955) – 228 x 915 cm, Installationsansicht der Ausstellung Gerhard Richter: Painting After All (Detail), The Metropolitan Museum of Art, März 2020. Foto ©  The Metropolitan Museum of Art

Grauer Spiegel (4-teilig), 2019 (WV 955) – 228 x 915 cm, Installationsansicht der Ausstellung Gerhard Richter: Painting After All (Detail), The Metropolitan Museum of Art, März 2020. Foto © The Metropolitan Museum of Art

Die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen zeigt seit 18. Dezember 2021 im K21 den 2014 entstandenen Birkenau-Zyklus von Gerhard Richter (*1932). Dem Werk liegen vier Fotografien zugrunde, die von Häftlingen des KZ Auschwitz-Birkenau heimlich und unter Lebensgefahr aufgenommen wurden. In seinem sechs Jahrzehnte umfassenden Schaffen hat sich Gerhard Richter mehrmals mit dem Thema Holocaust und der Darstellbarkeit der Verbrechen des Nationalsozialismus auseinandergesetzt. Erst in seinem Birkenau-Zyklus fand der Künstler einen Umgang mit und eine Form für das Thema.

Die vier Fotografien, die Richter als Ausgangspunkt für seinen Birkenau-Zyklus dienen, wurden im August 1944 von jüdischen Häftlingen, die Teil des Sonderkommandos des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau waren, aufgenommen.

Das Wort „Sonderkommando“ war eine Bezeichnung der Nationalsozialisten für Häftlinge, die zur Unterstützung bei der Ermordung der Gefangenen in Gaskammern und der Verbrennung der Leichen gezwungen waren. Mit einer ins Lager eingeschmuggelten Kamera, heimlich und unter Lebensgefahr, gelang es Alberto Errera, der mutmaßlich den Auslöser betätigt hat, David Szmulewski und anderen Mitgliedern des Sonderkommandos, vier Fotos aufzunehmen, die das Gelände um das Krematorium V zeigen. Es sind die einzigen bekannten Aufnahmen aus dem Vernichtungslager, die von den Opfern selbst aufgenommen wurden. Öffentlich verbreitet wurden sie erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges.

Gerhard Richter hat mindestens eines der Fotos seit dem Studium an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden gekannt. Jedoch hat er erst nach seiner Flucht in den Westen im Jahr 1961 angefangen, sich mit dem Thema Holocaust auseinanderzusetzen – Motive zu sammeln und diese als Vorlagen für seine Malerei zu verwenden. Diese ersten Versuche führten allerdings für ihn zu keiner befriedigenden Lösung. So hat er die Anfang der 60er Jahre entstandenen Werke „Erschießung und Tagebu(ch)“ zerstört. 1967 nahm Richter eines der Fotos des Sonderkommandos in seinen Atlas auf – die Sammlung von Fotografien, Zeitungsausschnitten und Skizzen, aus denen er seine Motive schöpft. Mitte der 1960er Jahre entstehen nach Fotovorlagen gemalte Bilder „Herr Heyde“, „Onkel Rudi“, „Tante Marianne“, „Familie am Meer“, die sich mit der Deutschen Vergangenheit und mit seiner eigenen Familie auseinandersetzen. In den 1990er Jahren versucht Richter erneut Fotos aus Konzentrationslagern abzumalen, was die ersten Entwürfe für die Eingangshalle des Deutschen Bundestags belegen (1997). Auch diese Idee verwirft er und schlägt stattdessen die Glasarbeit Schwarz-Rot-Gold als Zeichen des Neuanfangs vor.

Richters künstlerische Auseinandersetzung erfolgte vor dem Hintergrund der in den Nachkriegsjahren geführten Diskussionen über die Grundsätze einer kulturellen Praxis nach dem Holocaust, die Darstellbarkeit der Nationalsozialistischen Verbrechen und die möglichen Formen der Erinnerungskultur. Wie der kurze Überblick zeigt, trat der Künstler jedes Mal vor einer direkten Abbildung zurück und entschied sich dagegen, die Fotos aus den Konzentrationslagern abzumalen.

Noch 2011 in einem Interview mit Nicolas Serrota bezeichnet er sie als „unmalbar“ und sagt, er habe nie ein Bild gemacht, das auf dem Holocaust basiere.

Ein Anlass für eine erneute Beschäftigung mit dem Thema lieferte die Rezension des Buches von Georges Didi-Huberman „Bilder trotz allem“ in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, begleitet von einem der Fotos des Sonderkommandos aus dem Jahr 1944. In seiner 2008 veröffentlichten Abhandlung analysiert der französische Philosoph die vier Aufnahmen aus einer phänomenologischen Perspektive und führt sie als Argument in der Diskus-sion über die Darstellbarkeit des Holocausts an.

Ende 2013 schließlich begann Richter die vier Fotos auf die Leinwände zu übertragen.

Als das Ergebnis nicht seinen Erwartungen entsprach, übermalte er sie, bis die Figuration verschwand. Zwei von Richter praktizierte Vorgehensweisen treffen hier aufeinander: das Abmalen von fotografischen Vorlagen und das Übermalen eines Motivs. Damit rückt das Werk in ein Spannungsverhältnis zwischen Realismus und Abstraktion, Fotografie und Malerei. Ein Merkmal, das das gesamte Schaffen von Gerhard Richter prägt.

Als Technik wendet Richter hier ein Verfahren an, das in seinen ab Mitte 80er Jahren entstehenden Abstrakten Bildern Relevanz erhält. Er trägt mehrere Farbschichten mit einer Rakel auf die Leinwand auf und schiebt sie über die Bildfläche. Die Farbe wird ungleichmäßig verteilt, die unteren Ebenen scheinen an manchen Stellen durch, an anderen verschwinden sie komplett unter der Übermalung oder kommen überraschend durch das Kratzen zum Vorschein. Das Ergebnis ist ein Zusammenspiel des Zufalls und bewusster Entscheidungen des Künstlers.

Anders als bei den farbigen, gestischen Abstraktionen der letzten Jahrzehnte wird der Aus- druck von Birkenau oft als zurückhaltender und zögernder wahrgenommen.

Das Farbspektrum ist auf einige wenige Farben reduziert – Schwarz, Weiß und die Komplementärfarben Grün und Rot.

Gezeigt werden diese vier abstrakten Bilder zusammen mit vier grauen Spiegeln, die den Gemälden gegenüber hängen, sowie den Abzügen der vier Fotos aus dem Vernichtungslager. Zusammen bilden sie eine räumliche Installation, die von Spiegelungen, Referenzen und Bezügen geprägt ist. Der Birkenau-Zyklus beschäftigt sich mit grundlegenden Fragen zu den Möglichkeiten und Grenzen der Malerei und der Repräsentation. Gerhard Richter fand damit einen Umgang und eine Form für ein Thema, mit dem er sich in seinem sechs Jahrzehnte umfassenden Schaffen mehrmals auseinandergesetzt hat.

Seit ihren Anfängen wurde der Fotografie, durch den mechanisch-chemischen Prozess ihrer Entstehung, ein besonderer Bezug zur Realität beigemessen. Spätestens seit den 1960er Jahren wird die Fotografie als ein Abdruck der Realität in Frage gestellt.

Bei den vier Fotos des Sonderkommandos handelt es sich um einen Ausschnitt aus der Realität, der einige Erkenntnisse ermöglicht, nie aber das gesamte Ausmaß der Grausamkeit des Geschehens im Konzentrationslager darstellen kann.

Auch Richter erhebt mit seinem Birkenau-Zyklus keinen Anspruch darauf, den Holocaust abzubilden, sondern schafft trotz dieser Unmöglichkeit, einen Raum der Erinnerung und Reflexion.

Die Ausstellung im K21 wird durch eine Auswahl aus der Werkgruppe der übermalten Fotos und neue Zeichnungen des Künstlers ergänzt, die auf einer konzeptionellen Ebene Richters malerische Vorgehen bei Birkenau rahmen. Für Gerhard Richter, der sich in erster Linie als Maler versteht, war Zeichnung ein Medium, auf das er im Vergleich zur Malerei selten zurückgriff. In den letzten Jahren widmet er sich vermehrt der Zeichnung und lotet dabei unterschiedliche Techniken aus: Bleistift, Ölkreide oder Tuschfeder. Es sind abstrakte Werke, meist ohne kompositionellen Mittelpunkt, die sich durch Gelassenheit und Präzision auszeichnen.

Als Grundlage für die Übermalungen, die seit 1989 entstehen, dienen meistens Fotoabzüge im Format 10 auf 15 Zentimeter. Es handelt sich um Aufnahmen, die der Künstler aus dem eigenen Fundus schöpft: Fotos von Museumsbesuchen, Reisen, Spaziergängen. Hier wird das Spannungsverhältnis zwischen Fotografie und Malerei noch einmal thematisiert.

Gerhard Richter. Birkenau-Zyklus, Zeichnungen, Übermalte Fotos

K21 vom 18. Dezember 2021 – 24. April 2022 Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf