Zur Vorweihnachtszeit

Eine etwas andere Adventsgeschichte

Von Jo Achim Geschke |

Krippe, Foto Jo Geschke

Als Kind war ich mit meinem Vater Gast auf einem Schleppkahn, auf dem Mittellandkanal. In meinen Augen war der Schleppkahn riesig, auch das Steuerruder. Ich stand an diesem Ruder, den oberen Holm des Steuers konnte ich gerade noch greifen. Der Kahn wurde von einem Schlepper gezogen, der riesige schwarze Wolken aus dem Schornstein stieß. Der Krieg war noch nicht lange vorbei, etliche Schlepper fuhren noch mit Kohle. Auch der Lastkahn hatte in seinem tiefen schwarzen Ladebäuchen Kohle geladen. Die Romane von Sylvie Germain mit den Flussschifern, oder alte französische Fotos, etwa von Cartier-Bresson, erinnern mich manchmal ein wenig an diesen Lastkahn, mit seinem Schiffer, der in einem ehemals weißen Unterhemd mit Kohlenstaubflecken am großen Ruder kurbelte.

In Wirklichkeit war der Kahn vielleicht 50 Meter lang. Klein in heutigem Maßstab, da Frachtschiffe auf 110 Meter Länge begrenzt werden, wegen der Schleusenkammern.

Mein Vater hatte mich auf dem Mittellandkanal manchmal mitgenommen im damals noch hölzernen Boot der Wasserschutzpolizei.Wir wohnten nicht weit vom Mittellandkanal, und ich ging als kleiner  Kerl manchmal hinüber zum kleinen Schutzhafen. Einmal erwischte mich mein Vater, wie ich in einem eisernen Nachen, einem Beiboot von den Schiffen, durch den kleinen Hafen wriggte. Das ist eine Methode des Ruderns, bei dem ein Riemen am Heck  in einer Acht durch Wasser bewegt wird und das Boot vorwärts bringt. Mein Vater war entsetzt, denn ich konnte noch nicht schwimmen. Ich fiel aber nicht ins Wasser.

Kein Wunder, dass mich der Hafen anzog, als wir nach Düsseldorf umzogen. Mein Vater arbeitete dort:  Er hatte den Bau der runden  Dienststelle der Wasserschutzpolizei überwacht, die Einrichtung und die Beschaffung des WSP-Bootes.  Ich fuhr mit der Linie 8 dorthin, mit den klappernden Waggons zu Ende der 50er Jahre. Auf dem Weg zur runden WSP-Station musste ich an den alten Lagerhallen vorbei. Heute ist dort Wiese und Weg der Spaziergänger, mit Blick auf die Marina oder den Rhein. Ich musste damals noch aufpassen, ob Güterwaggons über die Schienen rollten. Verbotener Weise ging ich manchmal ganz nah an den Waggons vorbei, die nach Getreide oder nach anderer rätselhafter Fracht rochen, die in Säcken auf dem Holzboden der Waggons lagen. Und sie rochen nach Öl und altem Holz. Manchmal kürzte ich den Weg ab und kroch schnell unter den hohen Waggons zwischen den eisernen Rädern hindurch.

Manchmal saß ich auch am Kai und schaute den Kähnen zu, die dort lagen, oder den Schauerleuten, die damals noch mit harter Handarbeit die Ladung löschten und schwere Säcke auf die Schultern luden, um sie zur Palette des Krans im Schiffsbauch zu tragen. Der Kran hievte sie dann hoch, zu den Waggons. Häfen -  die Orte der Sehnsucht, sie versprechen Fahrt auf Fluss und Meer, auf Seefahrt, auf Reisen und ferne Länder, auf Unbekanntes. Und geben einen kleinen Eindruck davon, dass die Welt nicht so klein ist wie unsere vertraute Umgebung,  wie unsere Stadt.  Häfen weisen über die provinzielle Enge hinaus.

 

 

Heute ist das nicht mehr, es hat sich vieles verändert, äußerlich. Der Hafen ist glitzernden Prachtbauten berühmter Architekten an viel zu engen Straßen gewichen und zwischen den alten steinernen Kais den Anlegeboxen für Yachten. Die Frachtschiffe haben keine Ähnlichkeit mehr mit den Kohlekähnen von damals, sie sind heute 110 Meter lang und tragen 500 und mehr Container.

Aber noch immer  transportieren sie Papier, Kleidung, Stoffe, Werkzeug, Spielsachen aus den Seehäfen wie Rotterdam zu uns in die Stadt. Und ersetzen mit  ihrer Ladung Hunderte von Lastwagen. Was viele nicht wahrhaben wollen, und nicht die Häfen sehen als Weg in Ferne und andere Länder ; sie bleiben lieber im Bekannten, in der Provinz, die sich auf ihre kleinen Viertel, ja Quartiere, im Stadtteil verengt hat.  

Kinder können wohl kaum wie ich damals am Hafen spielen. Für die Kleinen war das auch gar nicht vorgesehen. Die Älteren sitzen im Ganztag in der Schule, oder zu Hause, und müssen lernen. Die noch älteren Mädchen und Jungen haben keine Zeit zum Spielen und büffeln für ein Abitur, das breite Bildung im verkürzten Weg zum Abi G 8 nicht mehr vermitteln kann, sondern auf die schnelle Verwertung in der Arbeitswelt zielt. Und manche Kinder aus Migrantenfamilien haben den Hafen noch nie gesehen, sie sind aus ihrem Stadtteil kaum mal heraus gekommen. Sie können auch schlecht lernen, weil die Eltern in dieser teuren Stadt nur eine kleine Wohnung haben und keine Möglichkeit für Kinderzimmer. Manche lernen in einem Zimmer über einer Werkstatt oder gar einer Kneipe und sperren den Lärm mit Musik aus ihrem Kopfhörer aus .

Und die Flüchtlinge, die die Stadt beherbergt, unter ihnen 600 Kinder, können keine Ahnung davon haben, was der Hafen ist. Schiffe, vor allem kleine, wecken bei ihnen eher das Trauma der Flucht oder erinnern sie an die Freunde, Bekannte, Familien, die auf einem kleinen Kahn übers Mittelmeer flohen und ertranken. Zu Tausenden sind sie auf See geblieben vor Lampedusa und der italienischen Küste. Wo jetzt mit deutscher Hilfe  die Küsten Europas abgesperrt werden. Ein See-Zaun, eine Mauer, die Europa abschottet. Wir bieten ihnen keinen sicheren Hafen mehr, keine Herberge, in der sie willkommen sind. Wir bringen sie unter.

Und es gibt noch die Mauer in den Köpfen, hier, in der Stadt, in der ich früher am Hafen spielen konnte und zuerst lernte, Boote und kleine Schiffe zu fahren. Die Mauer in den Köpfen. Nicht nur bei den Rechten, die unter der deutschen Fahne Ideen von 1933 herausbrüllen und alles abschotten wollen, auch jede Erkenntnis von Vielfalt. Die Toleranz  nicht kennen, weil sie in ihrem Leben keine Toleranz kennen lernten, nur das Gesetz des Stärkeren. Dass nur der Erfolgreiche gewinnt und Chancenlose abgehängt werden in der Ökonomisierung des Lebens, in der sogar die Pflege von Alten unter wirtschaftlichen Begriffen definiert und beschrieben wird und Wohnungen ein Spekulationsobjekt sind. Und keine Herberge.

Der Mensch als Güterwaggon, der auf dem Gleis steht, geleert und dann auf ein altes Gleis geschoben wird. Weil es sich ja wirtschaftlich sonst nicht mehr lohnt. Und für den es keinen Hafen mehr gibt, in den er zurückkommen, in dem er festmachen kann.

„Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.“ (Lukas-Evangelium)

Morgen ist 2. Advent. Ich wünsche eine gute Adventszeit …

Jo Achim Geschke