Schauspielhaus Premiere „Lulu“ nicht nur von Wedekind mit hervorragender Lulu

Wedekinds Lulu vom nur hübschen Kopf auf eigene Füße gestellt – Premiere einer irrwitzig guten Lulu mit ergänztem Text

Von Jo Achim Geschke |

Lulu, Andreas Grothgar, Lieke Hoppe, Florian Steffens / Foto © D Haus Thomas Rabsch

Sie steht da, ganz vorne an der Bühne, zieht sich aus. Stumm. Ist völlig nackt. Und schaut in den Zuschauerraum. Eine lange Minute lang. Stumm. Ihr Gesicht ein „Na ?“, … Zadek hat dabei 1988 das Licht im Zuschauerraum angemacht. Der männliche Voyeurismus öffentlich. Aber am Ende der Inszenierung. Hier steht Lieke Hoppe als Lulu gleich zu Anfang vorn und bestätigt nur scheinbar männliche Dominanz der Bilder. Diese Lulu, diese Lieke Hoppe, die am verstörenden, irrwitzig anstrengenden Ende sagt „ich kann nicht mehr“, diese Lulu sollte man auch aufnehmen und auf DVD anbieten, wie die berühmte Inszenierung von Zadek 1988. Lieke Hoppe kann neben den Stars von damals bestehen, und: Lieke Hoppe hat es verdient, sie und diese Inszenierung am Schauspielhaus Düsseldorf in der Regie von Bernadette Sonnenbichler und dem veränderten Text von ihr und Dramaturgin Janine Ortiz.

Lulu, die ihre Männer mal Eva, mal Nelli und mal Mignon nennen (die in Goethes eher pädophilem Urmeister ein undefiniertes Geschlecht hat), sie ist nicht die einzige Nackte auf dieser Bühne: Da laufen auch die Männer herum mit schwarzem Sakko und nacktem Schwanz, das sieht noch lächerlicher aus nackte Männer in Socken, womöglich schwarzen. Aber diese Männer sind nicht nur lächerlich.

Einigen aus dem Publikum war das wohl zuviel. Aber wenn eine Regisseurin / Dramaturgin einen Wedekind inszeniert in Zeiten von #metoo und Diskussionen über Feminismus, dann muss das zum Nachdenken anregen, was aber einige Theaterzuschauer*innen wohl nicht wollten und den Sitz im großen Haus nach der Pause verließen. Wenn Zuschauer*innen rausgehen, hat die Regie vieles richtig gemacht.

Regisseurin Sonnenbichler, Dramaturgin Ortiz rund Lieke Hoppe kippen der bisherigen Auffassung von Wedekind und den Männern im revidierten Stück die heutigen Diskussionen und Erfahrungen vor die Füße: Texte der Düsseldorferin Mithu Sanyal, der Kolumnistin Margarete Stokowski (beide haben zusammen drei Mal in Düsseldorf vor großem Publikum diskutiert), und der Französin Virginie Despentes, die als Prostituierte arbeitete und deren Texte schon im „Unterhaus“ vorgestellt wurden.

Auch Künstler Eduard Schwarz steht da als erster der Männer nackt, bestätigt auch irgendwie den Männer-Wahn und das Klischee und beklagt, dass „das Würstchen zu klein“ ist. Lachen im Publikum, Lulu schaut, lächelt „wow“ … das ist keine Frau, die nur als Bildvorlage für Männer dient.  Künstler Schwarz (Florian Steffens) malt sie mit blauer Farbe an, drückt sie damit an die weiße Wand, zurück bleiben blaue Abdrücke ihre Körpers an der Wand - und die bleiben da, bis zum Schluss.

Mit ihm schließlich verheiratet – weil ihr erster Mann dahin schied – steht Lulu hinter einer Maske aus Pappe, kindlich gezeichnetes Gesicht einer Sexpuppe. Lulus Pantomime zeigt, wie sehr sie gelangweilt ist und ironisch seine Worte kommentiert, während er sie als Model will für seine Kunst. „Na dann muss ich ja wohl“, meint sie schließlich.

Die Männer kommen durch zerreißende Papier-Fenster in die Szenerie. Wenn sie Lulu verlassen, müssen sie aus dem surrealen Raum des Bühnenbilds klettern (Bühne Simeon Meier, hervorragend auch Live-Musiker Jacob Suske). Aber die Männer sind schließlich jene, die von oben herab, aus der Seite des Bilds, Lulus Verhalten und selbst ihr Ende kommentieren – insofern bleibt dieser Wedekind erhalten. Aber Menschen wie diese Gräfin Geschwitz, die Claudius  Körber hervorragend als Kontrasexuellen gibt, kann Wedekind so nicht gekannt haben.

Es ist eine junge Inszenierung, jung im Sinne von: aktuell, an #metoo und die Diskussionen um das Frauenbild in Zeiten von Harvey Weinstein, Übergriffigkeit und sexueller Belästigung, oder Frauenbilder von Heidi Klum bei „Germany`s next Top Model“ angelehnt. Man kann nicht die Stücke 1:1 wiedergeben, die Wedekind schrieb, als Freud seine Traumdeutung und Paul Julius Möbius die 23 Seiten „Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes“ veröffentlichte (gibt’s immer noch als Taschenbuch!). Diese Inszenierung, diese Lulu, schafft es in Düsseldorf, die Lulu vom nur hübschen Kopf auf eigene Füße zu stellen.

Und auch wenn sich seit den Zeiten von Peter Zadeks „Lulu“ doch einiges verändert hat: Diese Lulu steht am Ende als Sexarbeiterin da („5 Euro, 3 Euro, …“), die keinen Jack the Ripper nötig hat, um sie zu zerfleischen. Hier steht sie, wie es bei Huren auf dem Straßenstrich wirklich ist: beschmutzt und körperlich fertig. Und wenn diese Lulu sagt „Ich kann nicht mehr“, dann gilt das wohl auch für die Schauspielerin nach diesem Parforce-Act hervorragender Schauspielkunst.

Zu Beginn hat Lulu aus der „Büchse der Pandora“ zitiert, einem der Stücke Wedekinds für die „Lulu“. Am Schluss macht sie aus der Pandora, die ihre Büchse öffnet und alles Leid, alle Seuchen und Viren in die Welt lässt – aus dieser Pandora macht sie im Schluss-Monolog den „Pandor“ – der aber auch nicht die Hoffnung aus der Box in die Welt hinaus lässt.

Stehende Ovationen und minutenlanger Jubel für Lieke Hoppe, das Ensemble und die Regisseurin.

(Autor Jo Achim Geschke)

Weitere Aufführungen und Karten-Reservierungen unter www.dhaus.de