Jubiläumstagung des Verbands der Hochschullehrer für Betriebswirtschaft 08. – 11.03.2022

Interview VHB-Kongress: Prof. Dr. Barbara Weißenberger und Prof. Dr. Peter Kenning geben erste Einblicke in Tagungsschwerpunkte und -Highlights

Jubiläumstagung des Verbands der Hochschullehrer für Betriebswirtschaft 08. – 11.03.2022/ Logo ©VHB

Jubiläumstagung des Verbands der Hochschullehrer für Betriebswirtschaft 08. – 11.03.2022/ Logo ©VHB

„BWL.Weiter.Denken.“ heißt das Generalthema der Jubiläumstagung zum 100jährigen Bestehen des Verbands der Hochschullehrer für Betriebswirtschaft (VHB). Mit Spannung werdenbeim Jahrhundertkongress Forschungsergebnisse und Trends sowie neue Erkenntnisse zu drängenden Fragen erwartet, wenn hochkarätige Experten drei Tage lang, vom 08. – 11.03.2022, auf hohem Niveau über die Frage diskutieren, welchen Beitrag gerade die Betriebswirtschaftslehre für die Zukunft von Unternehmen in Wirtschaft und Gesellschaft leisten muss. Erste Einblicke in wissenschaftlicheThemenschwerpunkte und Highlights des vielfältigen Programms geben die BWL-Professoren Barbara E. Weißenbergerund Peter Kenning, gemeinsam mit Christoph Börner und Guido Förster die führenden Köpfe der Tagungan der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

1. Für die Jubiläumskonferenz wurde ein anspruchsvolles Fachprogramm mitüber 200 Fachvorträgen, Symposia und Keynoteserarbeitet. Was war Ihre Idee dahinter – wie wollen Sie 100 Jahre Betriebswirtschaftslehre ‚weiter denken‘, wie Sie es in Ihrem Generalthema fordern? 

Barbara E. Weißenberger: Wir stehen derzeit ja vor immensen Herausforderungen in Wirtschaft und Gesellschaft - ganz gleich, ob es um die Transformation in die Klimaneutralität, globale Menschenrechte oder Systemwettbewerb und politische Krisen geht, um die Bewältigung der Corona-Pandemie oder die zwiespältigen Auswirkungen digitaler Technologien. Und Unternehmen werden von der Politik immer mehr auch für die Durchsetzung politischer Zielvorstellungen in die Pflicht genommen: Das haben wir ja ganz handfest in der Pandemie bei vielen Maßnahmen zur Erhöhung der Impfquote gesehen. Da hat man ja beispielsweise stark auf Unternehmen und ihre Beschäftigten gesetzt – zum einen, weil die Betriebsärzte gerade in großen Unternehmen an vielen Stellen enorm gut organisiert waren und schnell viele Menschen impfen konnten, aber auch, um Einschränkungen für ungeimpfte Menschen, z.B. als Restaurantbesitzer oder Einzelhändler, ganz konkret durchzusetzen. Nun sind Unternehmen in der Tat sehr mächtige ökonomische Akteure. Aber es ist natürlich schon die Frage, wie sie einen Beitrag zur Bewältigung all dieser Herausforderungen leisten können - und dabei auch gleichzeitig im Wettbewerb weiterhin erfolgreich sind. Da ist natürlich die BWL als Wissenschaft unmittelbar angesprochen. Hier müssen wir Impulse setzen!

Peter Kenning: Uns war es wichtig, dass wir mit dem Thema das Potenzial formulieren können, das die Betriebswirtschaftslehre bei einer gedanklichen und institutionellen Erweiterung realisieren könnte. Dabei geht es um zum einen um eine immer wieder zu bewirkende disziplinäre Offenheit und wissenschaftliche Neugier, oder, wenn man so will, um eine Erweiterung des disziplinären Horizonts. Zum anderen sollte der Passus „BWL.Weiter.Denken“ aber auch einen progressiven, zukunftsorientierten Orientierungsanspruch, den ein nicht nur universitär so bedeutsames Fach wie die BWL haben sollte, zum Ausdruck bringen. Gerade weil die BWL ja nicht theoretisch festgelegt ist, kann sie vortheoretisch und strukturierend wirken. Das ist eine Riesenchance, gerade jetzt.

2. Im prominent besetzten Kongress-Eröffnungssymposium geht es um aktuelle Fragen wie die Weiterentwicklung der Betriebswirtschaftslehre als Wissenschaftsdisziplin.Dabei geht es natürlich immer auch um Praxistransfer. Wie sind Hochschullehrerinnen und -lehrer heuteneben Forschung, Lehre darin eingebunden?

Peter Kenning: Ich denke, bei einer angewandten Wissenschaft gehört der Praxistransfer fast zwingend dazu. Unterschiede gibt es allerdings bei den Adressaten. „Praxis “ wird in der BWL oft mit „Unternehmenspraxis“ gleichgesetzt. Diese Perspektive ist wichtig, vielleicht aber zu eng. Um ein Beispiel zu nennen: In meiner Disziplin – dem Marketing – findet man in Deutschland zahlreiche institutionelle Vertiefungen, welche die betrieblichen Strukturen widerspiegeln, bspw.„Handelsmarketing“, „Dienstleistungsmarketing“ oder „B2B-Marketing“. Man findetdort aber relativ selten Institute oder Lehrstühle, die eine Verbreiterung anstrebenz.B. zum Thema „Marketing and Public Policy“. Die damit zum Ausdruck kommende, dominierende enge Perspektiveverhindert aber oft einen breiter angelegten Wissenstransfer in die Gesellschaft. Deshalb haben wir gerade in dieses Symposium auch bewusst ganz unterschiedliche Akteure eingeladen, die uns diese Perspektive geben: Den Politiker und NRW-Wirtschaftsminister Andreas Pinkwart, übrigens unserer Kongress-Schirmherr, die Wirtschaftsweise Veronika Grimm, die für die wirtschaftspolitische Beratung beim Wandel hin zu erneuerbaren Energien steht, den langjährigen BDI-Präsidenten und heutigen Vize-Präsidenten Dieter Kempf sowiedie Hochschulrektorin Birgitta Wolff, die ja in Sachsen-Anhalt auch lange als Wissenschafts- und Wirtschaftsministerin in der Politik engagiert war.

Barbara E. Weißenberger: Dem kann ich nur zustimmen. Natürlich brauchen Unternehmen in BWL gut ausgebildete Fach- und Führungskräfte, die unsere wissenschaftlichen Erkenntnisse aus dem Studium in die Praxis tragen. Immerhin bilden wir jedes Jahr 250.000 Studierende aus – BWL ist Deutschlands beliebtester Studiengang. Aber es geht um viel mehr. Einer meiner Studenten fasste das neulich in dem Satz zusammen: „Wenn man einmal BWL richtig verstanden hat, entdeckt man an ganz vielen Stellen Fragen, die die BWL lösen kann – nicht nur in Unternehmen.“ Man denke beispielsweise an den dringend notwendigen Umbau unseres Gesundheitswesens in ein den Patienten und pflegebedürftigen Menschen besser zugewandtes System, an das Management einer anspruchsgruppengerechte Digitalisierung von Verwaltungsprozessen, an die politisch gewollten Vereinfachung von Planungs- und Genehmigungsverfahren oder auch in der Organisation digitaler Unterrichtsangebote an Schulen, damit sich Lehrkräfte wieder ihren eigentlichen Aufgaben zuwenden können. Hier kann man mit professionellem BWL-Wissen viel erreichen und die Dinge besser machen: Professionalisierung statt Ökonomisierung ist die Devise.

3. Die Kongressthemen machen deutlich, dass die wissenschaftliche BWL sich als inzwischen multidisziplinär forschendes Fach mit aktuellen Herausforderungen befasst, mit denen sich Unternehmen in der Praxis auseinandersetzen. Was bedeutet es für die moderne BWL, dass ihr Potenzial mit gesellschaftlichen, politischen, ökologischen, sozialen und ethischen Fragestellungen weit über die eigenen Fachgrenzen hinausgeht?

Barbara E. Weißenberger: Ich bringe das immer gern auf den einfachen Punkt: Jedes Unternehmen will erfolgreich sein – aber Erfolg ist nicht automatisch gleich Gewinn. Viele setzen beides gleich, aber das ist zu kurz gegriffen. Finanzieller Profit ist nur eine Dimension des Unternehmenserfolgs. Hinzu kommen für einen ganzheitlichen Erfolg als nichtfinanzielle Dimensionen ökologische und soziale Nachhaltigkeit sowie Governance, die man am besten übersetzt als Integrität und Fairness, also Grundwerte des ‚ehrbaren Kaufmanns‘. Erst wenn in den nichtfinanziellen Dimensionen Nachhaltigkeit erreicht ist, also der Erhalt einer lebenswerten Umwelt und Gesellschaft sowie solide Integrität als Marktpartner sichergestellt sind, können ethisch vertretbare Übergewinne erwirtschaftet werden. Genau das müssen Unternehmen erreichen, und die moderne BWL muss ihnen das Instrumentarium dafür zur Verfügung stellen: Wie sie ganz handfestim Spannungsfeld zwischen Nachhaltigkeit, Wohlstand und fairer Verteilung der Transformationslasten neue unternehmerische Chancen erkennen und umsetzen können. Dazu braucht es Argumente und Ideen aus vielen verschiedenen Perspektiven.

Peter Kenning: Und das ist auch nicht trivial – im Gegenteil. Denn mit dieser veränderten Sichtweise sind erhebliche Transaktionskosten verbunden. Diese entstehen ja schon dann, wenn man sich in die spezifischen Logiken und Problemlagen eindenken möchte. Ist dies aber geschafft, können sich neue Perspektiven eröffnen und innovative Ansätze entstehen. Wir müssen dann aber auch über die disziplinäre Verantwortung nachdenken. Was können und müssen wir als Betriebswirtinnen und Betriebswirte in der Wissenschaft für die Gesellschaft leisten? Diese Diskussion möchten wir durch unsere Jubiläumstagung befeuern.

4. Aber inwieweitkönnen theoretische Erkenntnisse der modernen Betriebswirtschaftslehre Impulse für die Praxis geben? Welche Rolle spielt der wissenschaftliche Nachwuchs?

Barbara E. Weißenberger: Man muss ja eines ganz klar sehen: Die BWL ist zur Wissenschaftsdisziplin geworden, als sie im frühen 20. Jahrhundert begann, systematisch und theoriebasiert Praktiken in Unternehmen kritisch zu hinterfragen und weiterzuentwickeln. Damit gelang es ihr in der Folge viele Probleme zu lösen, die nicht nur für einzelne Unternehmen erfolgskritisch waren, sondern auch für die Funktionsfähigkeit eines modernen Wirtschafts- und Finanzsystems insgesamt. Fragen, die damals auf der Tagesordnung standen, waren zum Beispiel: Wie müssen Rechnungslegung und Governance ausgestaltet sein, damit Industrieunternehmen ihre immensen Kapitalbedarfe decken können? Wie kann das Zusammenwirken von Mensch und Maschine in der Produktion organisiert werden? Wie sollen Preise kalkuliert werden, damit Investitionsgütermärkte funktionsfähig werden? Und heute müssen wir eben neue Fragestellungen lösen. Das ist die Herausforderung, vor der wir – aber eigentlich jede anwendungsorientierte Wissenschaft – immer wieder stehen.

Und dass wir das ganz erfolgreich hinbekommen, zeigen auch die enormen Drittmittelerfolge der letzten Jahre – sei es der von der Deutschen Forschungsgemeinschaftgeförderte hochschulübergreifende Sonderforschungsbereich zu Transparenz und Rechnungslegung, oder das BERD-Konsortium für die Sammlung und Archivierung von betriebswirtschaftlichen Datensätzen und KI-basierten Algorithmen, die Teil der Nationalen Forschungsdateninfrastruktur NFDI in Deutschland ist – übrigens auf Augenhöhe mit so traditionsreichen Disziplinen wie der Medizin. Die führenden Sprecher dieser Initiativen wie Caren Sureth-Sloane, Joachim Gassen oder Florian Stahl sind übrigens auch Redner auf unserer Tagung!

Peter Kenning: Genau. Gerade die moderne BWL sollte Theoriearbeit leisten. Ich denke, dass unser Fach nur dann erfolgreich bleiben wird, wenn es uns gelingt, mit Hilfe geeigneter Theorien die Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft und damit auch in und vonUnternehmen begrifflich zu fassen, zu beschreiben und zu erklären. Erst dann kann die BWL einen Gestaltungsanspruch zum Ausdruck bringen und behaupten. Die Theorie sowie die intellektuelle Kraft, eine neue Beobachtung begrifflich zu fassen und zu etablieren,ermöglicht ja oft erst die Gestaltung der Realität. Und das ist es auch, was unsere jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler umtreibt. Man darfnicht vergessen: Viele der 180 wissenschaftlichen Vorträge, die wir allein im offenen Konferenzprogramm hören werden, stammen von ganz kreativen und methodisch exzellent ausgebildeten Nachwuchsforschenden. Für Wissenschaftler wie uns, die schon seit vielen Jahren ‚im Geschäft‘ sind, ist das eine hochspannende Inspirationsquelle.

5. Betriebswirtschaftliche Studiengänge sind die am stärksten nachgefragte Hochschuldisziplin deutschlandweit. Was bedeutet es für Ihr Fach, aber auch unsere Wirtschaft, wenn allein in Deutschland jährlich rund 250.000 Fach- und Führungskräfte ausgebildet werden?

Barbara E. Weißenberger: Zuerst einmal ist das natürlich eine grandiose Erfolgsstory. 1950 waren in Deutschland nur 6.000 BWL-Studierende eingeschrieben, 1972 erst 21.000. Das hat sich also heute mehr als verzehnfacht. Und diese Studierenden sind es dann, die als Bachelor- oder Masterabsolventen unser wissenschaftliches Know-how in die Unternehmenspraxis tragen und was sie dann leisten, ist ökonomische Wissensarbeit auf hochprofessioneller Ebene!Das ist bis heute unverzichtbar, wie die hohe und vor allem stabilen Nachfrage nach BWL-Absolventen zeigt, die anders als beispielsweise in Lehramtsfächern gerade nicht zyklisch zwischen ‚Schwemme‘ und ‚Mangel‘ hin und her schwankt.

Peter Kenning: Richtig. Und diese betriebswirtschaftliche Expertise wird von Unternehmen auch weiterhin gebraucht. Denn für die gesellschaftliche licensetooperate, also die Existenzberechtigung eines Geschäftsmodells, muss im Sinne der Triple Bottom Line inzwischen nicht nur finanzielle, sondern gleichzeitig auch globaleökologische und soziale Nachhaltigkeit sowie Governance erreicht werden. Güterproduktion in diesem Spannungsfeld zu organisieren, ist eine Aufgabe, die nicht lösbar ist ohne betriebswirtschaftliches Know-how, das weit mehr bietet als die schematische Reduktion auf Ökonomisierung im Sinne kurzfristiger finanzieller Profitmaximierung.

6. Der Kongress präsentiert eine enorme Vielfalt aktueller Themen und Diskussionen in allen Bereichen der BWL. Welche Tagungs-Highlights sind besonders hervorzuheben?Und worauf freuen Sie sich persönlich ganz besonders?

Barbara E. Weißenberger: Wir haben natürlich nur Tagungs-Highlights (lacht). Im Ernst, ich freue mich auf vier intensive und inspirierende Tage mit vielen wissenschaftlichen Vorträge und Symposien aus der BWL heraus, aber ganz besonders auf die Impulse von außen. Wir haben beispielsweise Claudia Nemat eingeladen, die uns als Technologievorständin der Telekom in ihrer Keynote genau sagen wird, was für Herausforderungen sie derzeit mit ihrem Führungsteam bewältigen muss und worauf wir deshalb unsere Studierenden vorbereiten müssen. Und der ehemalige Verfassungsrichter Udo Di Fabio wird mit uns in seiner Keynote die Frage diskutieren, wie stark sich die soziale schon in eine gelenkte Marktwirtschaft entwickelt hat und was das für Unternehmen bedeutet.

Peter Kenning: Und ein ganz besonderes Highlight ist auch unsere digitale Ausstellung „100 Jahre BWL in 100 Bildern: Was Unternehmen bewegen und was sie bewegt“, mit dem wir diesen Jahrhundertkongress begleiten. Denn BWL wird oft als ganz abstraktes Fach gesehen und viele junge Menschen, die ihr BWL-Studium beginnen, haben anfangs noch wenig Vorstellungen davon, was in Unternehmen hinter den Kulissen geschieht und wo BWL in Wirklichkeit überall eine Rolle spielt. Das wollen wir damit greifbar machen – und ganz nebenbei nicht nur Geschichte, sondern auch Geschichten von und über Unternehmen erzählen. Und jetzt freue ich mich natürlich auf die gesamte Tagung und darauf, dass es jetzt bald losgeht!

Hintergrund

Der Verband der Hochschullehrer für Betriebswirtschaft e.V. (VHB) setzt sich aus über 2.800 Mitgliedern zusammen, die sich wissenschaftlich auf dem Gebiet der Betriebswirtschaftslehre betätigen. Ziel des VHB ist die Förderung und Weiterentwicklung der BWL als gesellschaftlich relevante, international anschlussfähige und zukunftsweisende Wissenschaftsdisziplin. Der Verband ist eine wachsende, lebendige Plattform für wissenschaftlichen Austausch, Vernetzung und Nachwuchsförderung in allen Bereichen der BWL und darüber hinaus. 1921 gegründet, ist der VHB heute die führende wissenschaftliche Verbandsinstitution der BWL im deutschsprachigen Raum.

Weitere Informationen unter www.vhbonline.org/

 Zum Kongressprogram:m  BWL.Weiter.Denken.

Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf