1. Für die Jubiläumskonferenz wurde ein anspruchsvolles Fachprogramm mitüber 200 Fachvorträgen, Symposia und Keynoteserarbeitet. Was war Ihre Idee dahinter – wie wollen Sie 100 Jahre Betriebswirtschaftslehre ‚weiter denken‘, wie Sie es in Ihrem Generalthema fordern?
Barbara E. Weißenberger: Wir stehen derzeit ja vor immensen Herausforderungen in Wirtschaft und Gesellschaft - ganz gleich, ob es um die Transformation in die Klimaneutralität, globale Menschenrechte oder Systemwettbewerb und politische Krisen geht, um die Bewältigung der Corona-Pandemie oder die zwiespältigen Auswirkungen digitaler Technologien. Und Unternehmen werden von der Politik immer mehr auch für die Durchsetzung politischer Zielvorstellungen in die Pflicht genommen: Das haben wir ja ganz handfest in der Pandemie bei vielen Maßnahmen zur Erhöhung der Impfquote gesehen. Da hat man ja beispielsweise stark auf Unternehmen und ihre Beschäftigten gesetzt – zum einen, weil die Betriebsärzte gerade in großen Unternehmen an vielen Stellen enorm gut organisiert waren und schnell viele Menschen impfen konnten, aber auch, um Einschränkungen für ungeimpfte Menschen, z.B. als Restaurantbesitzer oder Einzelhändler, ganz konkret durchzusetzen. Nun sind Unternehmen in der Tat sehr mächtige ökonomische Akteure. Aber es ist natürlich schon die Frage, wie sie einen Beitrag zur Bewältigung all dieser Herausforderungen leisten können - und dabei auch gleichzeitig im Wettbewerb weiterhin erfolgreich sind. Da ist natürlich die BWL als Wissenschaft unmittelbar angesprochen. Hier müssen wir Impulse setzen!
Peter Kenning: Uns war es wichtig, dass wir mit dem Thema das Potenzial formulieren können, das die Betriebswirtschaftslehre bei einer gedanklichen und institutionellen Erweiterung realisieren könnte. Dabei geht es um zum einen um eine immer wieder zu bewirkende disziplinäre Offenheit und wissenschaftliche Neugier, oder, wenn man so will, um eine Erweiterung des disziplinären Horizonts. Zum anderen sollte der Passus „BWL.Weiter.Denken“ aber auch einen progressiven, zukunftsorientierten Orientierungsanspruch, den ein nicht nur universitär so bedeutsames Fach wie die BWL haben sollte, zum Ausdruck bringen. Gerade weil die BWL ja nicht theoretisch festgelegt ist, kann sie vortheoretisch und strukturierend wirken. Das ist eine Riesenchance, gerade jetzt.
2. Im prominent besetzten Kongress-Eröffnungssymposium geht es um aktuelle Fragen wie die Weiterentwicklung der Betriebswirtschaftslehre als Wissenschaftsdisziplin.Dabei geht es natürlich immer auch um Praxistransfer. Wie sind Hochschullehrerinnen und -lehrer heuteneben Forschung, Lehre darin eingebunden?
Peter Kenning: Ich denke, bei einer angewandten Wissenschaft gehört der Praxistransfer fast zwingend dazu. Unterschiede gibt es allerdings bei den Adressaten. „Praxis “ wird in der BWL oft mit „Unternehmenspraxis“ gleichgesetzt. Diese Perspektive ist wichtig, vielleicht aber zu eng. Um ein Beispiel zu nennen: In meiner Disziplin – dem Marketing – findet man in Deutschland zahlreiche institutionelle Vertiefungen, welche die betrieblichen Strukturen widerspiegeln, bspw.„Handelsmarketing“, „Dienstleistungsmarketing“ oder „B2B-Marketing“. Man findetdort aber relativ selten Institute oder Lehrstühle, die eine Verbreiterung anstrebenz.B. zum Thema „Marketing and Public Policy“. Die damit zum Ausdruck kommende, dominierende enge Perspektiveverhindert aber oft einen breiter angelegten Wissenstransfer in die Gesellschaft. Deshalb haben wir gerade in dieses Symposium auch bewusst ganz unterschiedliche Akteure eingeladen, die uns diese Perspektive geben: Den Politiker und NRW-Wirtschaftsminister Andreas Pinkwart, übrigens unserer Kongress-Schirmherr, die Wirtschaftsweise Veronika Grimm, die für die wirtschaftspolitische Beratung beim Wandel hin zu erneuerbaren Energien steht, den langjährigen BDI-Präsidenten und heutigen Vize-Präsidenten Dieter Kempf sowiedie Hochschulrektorin Birgitta Wolff, die ja in Sachsen-Anhalt auch lange als Wissenschafts- und Wirtschaftsministerin in der Politik engagiert war.
Barbara E. Weißenberger: Dem kann ich nur zustimmen. Natürlich brauchen Unternehmen in BWL gut ausgebildete Fach- und Führungskräfte, die unsere wissenschaftlichen Erkenntnisse aus dem Studium in die Praxis tragen. Immerhin bilden wir jedes Jahr 250.000 Studierende aus – BWL ist Deutschlands beliebtester Studiengang. Aber es geht um viel mehr. Einer meiner Studenten fasste das neulich in dem Satz zusammen: „Wenn man einmal BWL richtig verstanden hat, entdeckt man an ganz vielen Stellen Fragen, die die BWL lösen kann – nicht nur in Unternehmen.“ Man denke beispielsweise an den dringend notwendigen Umbau unseres Gesundheitswesens in ein den Patienten und pflegebedürftigen Menschen besser zugewandtes System, an das Management einer anspruchsgruppengerechte Digitalisierung von Verwaltungsprozessen, an die politisch gewollten Vereinfachung von Planungs- und Genehmigungsverfahren oder auch in der Organisation digitaler Unterrichtsangebote an Schulen, damit sich Lehrkräfte wieder ihren eigentlichen Aufgaben zuwenden können. Hier kann man mit professionellem BWL-Wissen viel erreichen und die Dinge besser machen: Professionalisierung statt Ökonomisierung ist die Devise.